Virtuelle Audits? Klingt gut, aber…

Tatsache ist, dass die unsichere Audit-Situation, die von der Europäischen Kommission heraufbeschworen wurde, Zertifizierungen nach MDR zu gefährden droht.

Der 26. Mai 2021 ist ein Termin, der bei vielen Medizinprodukte-Herstellern die Alarmglocken schrillen lässt: Ab diesem Tag wird die neue EU-weit gültige Medizinprodukteverordnung (EU-MDR) angewendet.

Als Regulatory-Managerin der IGEPHA habe ich Einblick in die prekäre Situation: Schon vor Beginn der Covid-19-Pandemie war es für Hersteller schwierig, Rezertifizierungsaudits zu planen. Als im März 2020 das infektiöse Virus das öffentliche Leben lahmlegte, trat auch bei den Audits vor Ort ein Stillstand ein. Diese müssen üblicherweise direkt am Firmensitz stattfinden, um Herstellungsprozesse überprüfen und eine korrekte Bewertung auf hohem Niveau sicherstellen zu können.

Am 11. Januar 2021 gab die Europäische Kommission bekannt, dass aufgrund der Covid-19-Situation für die Zertifizierung von Medizinprodukten nun ausnahmsweise virtuelle Audits zugelassen sind.

Diese Bekanntmachung wurde zunächst begrüßt, weil dadurch virtuelle MDR- und IVDR-Audits prinzipiell ermöglicht wurden. In Wahrheit aber brachte diese Lösung Benannte Stellen, Mitgliedsstaaten und Hersteller in eine schwierige Situation, rechtlich wie praktisch. Spezifische Anweisungen und Regeln für die Verantwortlichkeiten fehlen nämlich, wodurch sich jede Benannte Stelle, die nach einem Fernaudit ein MDR/IVDR-Zertifikat ausstellt, dem Vorwurf aussetzen könnte, gegen das Gesetz zu verstoßen. MDR und IVDR sehen nämlich vor, dass Erstaudits von den Benannten Stellen persönlich durchgeführt werden müssen.

Die Europäische Kommission überlässt die Verantwortung für die Auslegung des Dokuments den einzelnen Mitgliedsstaaten und den Benannten Stellen. Das Ergebnis ist eine uneinheitliche Vorgangsweise in der EU, wobei sich herausgestellt hat, dass einige Benannte Stellen und einige Mitgliedsstaaten nicht bereit sind, ein Risiko einzugehen.

Es zeichnet sich ab, dass viele Hersteller nicht in der Lage sein werden, ihre Produkte rechtzeitig zum Stichtag 26. Mai 2021 CE-zertifizieren zu lassen, was den Zugang der Patienten zu innovativen Produkten und zu jenen Produkten, für die keine Übergangsfristen gelten, gefährdet.

Konsumenten werden weltweit ganz unterschiedlich von der Verfügbarkeit bestimmter Medizinprodukte betroffen sein, woraus sich ungleiche Wettbewerbsbedingungen für die involvierten Unternehmen ergeben, je nach der Bereitschaft der zuständigen Behörden oder Benannten Stellen, virtuelle Audits durchzuführen.

Die Europäische Kommission besteht in ihrer Bekanntmachung auch darauf, dass die virtuellen Audits so bald wie möglich als Vor-Ort-Audits wiederholt werden müssen. Schon ein oberflächlicher Einblick in die Verfügbarkeit der Benannten Stellen zeigt aber, dass dafür einfach der Freiraum fehlt – angesichts eines „Tsunamis“ von Produkten, die rechtzeitig vor dem Stichtag 26. Mai 2024 auditiert werden müssen.

Angesichts dieser Misere halte ich es ist erwähnenswert, dass der Arzneimittelsektor praktikablere Lösungen gefunden hat, um virtuelle Audits zu ermöglichen. Die Head of Medicines Agencies (HMA) in der EU und die European Medicines Agency (EMA) sind sich in ihren Positionen sehr einig und haben einen ziemlich klaren Hinweis formuliert, der für alle gilt. Der EMA-Leitfaden zu GCP-Ferninspektionen während der Covid-19-Pandemie, der am 20. Mai 2020 veröffentlicht wurde, enthält eine vollständige Vorlage und einen Fahrplan, wie ein Fernaudit vorzubereiten und umzusetzen ist, sowie Details zur Risikobewertung des auditierten Herstellers.

Die Industrie neigt dazu, sich schnell an veränderte Marktbedingungen anzupassen, insbesondere wenn es um Patientensicherheit und Produktverfügbarkeit geht. Es sollte das Ziel aller Beteiligten sein, einen harmonisierten Ansatz zu finden, um in diesen turbulenten Zeiten den Produktzugang für alle Betroffenen zu erleichtern.