Neue Chancen für Self Care

Das 57. Annual Meeting der AESGP, das anlässlich der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft eigentlich in Lissabon hätte stattfinden sollen, wurde am 26. und 27. Mai 2021 virtuell durchgeführt. Ganz offensichtlich konnte sich jeder Einzelne von uns und die gesamte pharmazeutische Branche mit den Änderungen und Einschränkungen arrangieren und sogar von neuen Chancen, die sich daraus ergeben haben, profitieren.

Besonders motiviert haben mich die vielen positiven Botschaften von herausragenden Experten zur Weiterentwicklung der Self Care. Hier sind die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammengefasst!

Wussten Sie, dass in der EU jährlich 6,6 Milliarden leichte Gesundheitsstörungen auftreten, von denen 1,19 Milliarden mit Self-Care-Produkten behandelt werden? Diese hohen Werte bestätigen den ökonomischen und sozialen Stellenwert der OTC-Industrie und wurden von Professor Uwe May präsentiert. Er stellte vorläufige Einblicke in die Ergebnisse einer Studie vor, die von der AESGP in Auftrag gegeben wurde, um den Stellenwert von Self Care in Europa zu untersuchen und einen Blick auf die künftigen Potenziale der Self Care zu werfen, die sich eröffnen, wenn noch mehr Self Care praktiziert wird, als es heute schon der Fall ist.

Gäbe es Self Care nicht, bräuchten wir in Europa um 120.000 Ärzte mehr, oder jeder Arzt müsste täglich um 2,4 Stunden länger arbeiten. Das sind wirklich überzeugende Argumente und wir hoffen, dass wir damit das Interesse der politisch Verantwortlichen in der EU wecken und sie davon überzeugen können, wie wichtig eine noch stärkere Integration der Self Care-Politik in die Agenda der nationalen öffentlichen Gesundheitssysteme ist!

Die Studienautoren schätzten ein, welche Vorteile ein Einzelner hat, der sich für Self Care anstatt für einen Arztbesuch entscheidet: Dadurch kann ein Betroffener nämlich durchschnittlich 2,18 Euro und 106 Minuten Zeit einsparen.

Interessant ist auch, dass längst nicht alle europäischen Länder bei der Self Care gleichauf liegen: In Polen beispielsweise wird jede dritte leichte Gesundheitsstörung mit Self Care behandelt, in den Niederlanden und in Norwegen sind es nur sieben Prozent.

Bei der Anwendung von Self Care im Fall von geringfügigen Erkrankungen ist somit europaweit noch viel Luft nach oben. Die Studienautoren haben ermittelt, dass durch noch häufigere Anwendung von Self Care weitere 17,6 Milliarden Euro im Bereich der Gesundheitssysteme und im öffentlichen Haushalt eingespart werden könnten. Dadurch könnten die Gesundheitsbudgets finanziell und die Ärzte zeitlich entlastet werden.

Covid-19 hat das Interesse an Self Care enorm gestärkt und eine völlig neue Situation geschaffen, auf der die Self Care Industrie aufbauen kann. Aus vielen Beiträgen bei der AESGP Jahreskonferenz war herauszuhören, worauf es besonders ankommt: Es geht um Zusammenarbeit, Partnerschaft und Anpassungsfähigkeit.

Wenn es gelingt, mit neuen Strategien auf das veränderte Verbraucherverhalten zu reagieren, so hat der Self Care Markt beste Chancen, deutlich zu wachsen. Sven Göth von Digital Competence Lab nannte fünf Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation: Die Fähigkeit zu Innovation, Digitalisierung, Teamarbeit, Freiraum für Veränderungen sowie Verantwortungsbewusstsein.

Wie stark sich das Verbraucherverhalten durch die Pandemie verändert hat, schilderte Mark Visser von Kantar. Das frisch geweckte Konsumenten-Interesse an Hygiene, gesunder Ernährung und Online-Shopping zähle zu jenen Verhaltensweisen, die in der „neuen Normalität“ zur Gewohnheit werden können.

E-Commerce gewann im Einzelhandel an Popularität, auch der Markt für Self Care Produkte bildet dabei keine Ausnahme. Amit Shukla von IQVIA brachte es auf den Punkt: Früher sei e-Commerce für die Self Care Unternehmen ein „Hobby“ gewesen, jetzt sei es ein „Muss“.

Und Jyoti Shah, ebenfalls von IQVIA, berichtete von einem zweistelligen Wachstum des Umsatzes bei den Online-Apotheken in Deutschland, Frankreich, Polen und Tschechien im Jahr 2020. Der Konsument werde künftig noch proaktiver und vernetzter, besser informiert und anspruchsvoller sein.

Worin besteht dabei die Herausforderung für die Hersteller? Sie müssen dafür sorgen, dass den Verbrauchern ein OMO-Erlebnis (Online Merging Offline) geboten wird. Dazu muss man die Stärken der eigenen Produkte bestens kennen und die Bedürfnisse der Verbraucher verstehen. Die Grenze zwischen online- und offline-Erfahrung für Käufer verschwimmt immer mehr, und es wird immer wichtiger, das Einkaufserlebnis als Ganzes zu betrachten.

Tobias Brodtkorb von Sempora Consulting rief dazu auf, mit den großen e-Pharmacy-Anbietern zusammenzuarbeiten. Der Markteintritt von Amazon als Online-Apotheke würde das Szenario stark verändern. 42% der Amazon-Kunden würden es begrüßen, wenn sie OTC-Präparate direkt beim Online-Giganten bestellen könnten, sagte Brodtkorb. Schon jetzt macht Amazon mit OTC-Produkten wie zum Beispiel mit Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten einen Umsatz von 160 Millionen Euro.

Spannend war, dass Tag 1 der AESGP Jahrestagung mit dem Geltungsbeginn der Medical Device Regulation zusammenfiel. „Heute ist der Tag“, machte Paul Piscoi von der Europäischen Kommission auf dieses historische Datum aufmerksam. Obwohl bereits viele Herausforderungen bewältigt werden konnten, gebe es noch einige Arbeiten zu erledigen, zum Beispiel bei der Benennung von benannten Stellen, um die Fülle an Zertifizierungsanträgen abarbeiten zu können, für die der Höhepunkt für 2024 erwartet wird.

Persönlich fand ich die Session 4, bei der es um die Risikokommunikation in Zeiten hoher Unsicherheit ging, besonders wertvoll. Wir alle sehen uns seit Beginn der Pandemie mit einer hohen Unsicherheit konfrontiert, Wissen ist zu einem volatilen Gut geworden. Bei der AESGP Konferenz haben Experten, darunter der Generaldirektor der EMA, Emar Cooke, der Autor der WHO-Leitlinie zur Risikokommunikation in Zeiten einer Pandemie, Gaya Gamhewageg, und andere Redner ihre Erfahrungen aus der Arbeit ihrer Organisationen zur Vermittlung von Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen an das Publikum weitergegeben. Es ist offensichtlich, dass die Pandemie die Erwartungen der Bürger an die Rolle von Regulierungsbehörden und Herstellern verändert hat. Von jedem wird erwartet, dass er wissenschaftlich fundierte Informationen verbreitet und kommuniziert, um der Infodemie, in der wir leben, entgegenzuwirken.

Wie lauten nun die Botschaften für die Self Care Branche nach dieser informativen Konferenz? Ich denke, dass es darum geht, gemeinsam die Zukunft zu gestalten und sowohl jeden Einzelnen in seinem Wohlbefinden und in seiner „Health-Journey“, wie auch unsere Gesundheitssysteme zu unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, bekennt sich die Self Care Industrie zur engen Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden, Apothekern und anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe. Ich freue mich darauf, mit allen Partnern den Weg in die Zeit nach der Pandemie zu beschreiten und die „neue Normalität“ mitzugestalten.

Und ich hoffe, dass schon das nächste Annual Meeting der AESGP wieder „Face-to-Face“ stattfinden kann. Der Termin steht schon fest: 7. bis 9. Juni 2022 in Mailand!

Jurate Švarcaite, Generaldirektorin der AESGP